«Wir können TITANIC emotional nachvollziehen»

 

Regisseur Rolf Sommer steckt mitten in den Proben zum Musical «TITANIC», das im Januar im Theater Uri als Schweizer Mundart-Premiere vom Stapel läuft. Dass so eine Stückauswahl keine einfache Sache ist und warum er manchmal auf Eisschollen umherdriftet, erzählt er im Interview.


Rolf Sommer, wie oft erklären Sie, dass Film und Musical höchstens der Untergang der TITANIC vereint?

Nicht oft (lacht). Ich erwähne es gerne gleich selbst, präventiv sozusagen. Das Musical ist ein völlig eigenständiges Werk. Ohne den Film würde man es viel mehr als solches wahrnehmen. Es zeichnet ein enorm vielschichtiges Gesellschaftsbild. Menschen aus allen Schichten, geprägt von einer unglaublichen Aufbruchsstimmung und diesem unbedingten Glauben in den technischen Fortschritt, der sogar die Natur übertrifft. Dazu kommt eine wunderbare Musik, die genau diese Themen zusätzlich unterstreicht.

«TITANIC» widerspricht Ihrem bewährten Stückwahlmuster. Wie kam‘s?

Ein Stück inszenieren, das ich selber als Darsteller schon gespielt habe, wollte ich eigentlich nicht. Ich hatte Bedenken, dass ich dadurch zu voreingenommen sein könnte. Die Stückauswahl ist jedoch ein vielfältiger Prozess und richtet sich nach vielen Kriterien, wie etwa Ensemble- und Orchestergrösse, musikalischem Schwierigkeitsgrad oder inhaltlichen Anforderungen. Schlussendlich entschieden wir uns für «TITANIC», weil wir alle im künstlerischen Team absolut davon überzeugt sind, dass wir Eigängwächsler diese kunterbunt zusammengewürfelte Gesellschaft auf diesem Schiff wahnsinnig gut repräsentieren.

Hand aufs Herz: Frauen-Sprechrollen sind aber eher Mangelware.

Leider ist es immer noch so, dass in Musicals das Geschlechterverhältnis bei der Rollenverteilung sehr unausgewogen ist. Bei den Auditions bewerben sich immer sehr viele Frauen auf wenige Rollen. Bei den Männern ist es gerade umgekehrt. «TITANIC» steht leider exemplarisch für diese Unausgewogenheit. Das war übrigens ein gewichtiges Argument gegen das Stück. Wir dachten auch mehrere Varianten durch, um mehr Frauen das Mitspielen zu ermöglichen. Wir taten uns jedoch schwer damit, Rollen geschlechtermässig umzuschreiben. Das hätte die Anlage und die Aussage des Stückes zu sehr verändert. Vielleicht waren wir auch ein bisschen zu wenig mutig, das kann schon sein. Doch das Ganze ins Absurde ziehen wollten wir nicht. Im Wissen darum, dass wir einige Frauen sehr enttäuschen, die gerne mitgewirkt hätten, blieben wir bei der klassischen Variante.

Wie nähern Sie sich so einem Stück an?

Am Anfang steht der für mich der essenzielle Prozess des Visualisierens. Wie soll unser Stück aussehen, wie das Bühnenbild, die Kostüme? Die Zusammenarbeit mit der Bühnen- und Kostümbildnerin Josephine Enders ist da enorm hilfreich. Wenn ich das Stück lese, die Musik höre, entstehen Bilder, die ich dann mit dem Bühnenbild in Einklang bringen kann. Sobald die Bühnenelemente definiert sind, kann ich anfangen die Inszenierung danach auszurichten. Erst dann fängt die gemeinsame Entdeckungsreise mit dem Spielerensemble an. Dieser Prozess gehört zum Spannendsten und zu meinen Lieblingsarbeiten als Regisseur. Genau deswegen macht man es.

Wie ist es, mit einem so heterogenen Ensemble zu proben?

Grossartig, aber auch herausfordernd! Mit den Jugendlichen und Erwachsenen proben wir einmal wöchentlich. Da geht es darum, die Inszenierung auf die Beine zu stellen, Dialoge, Lieder und Choreografien zu üben und die Szenen so zu organisieren, dass alle wissen, woher sie auftreten, wo sie stehen oder was sie tun. Für die Kinder gibt es ein gesondertes Schauspieltraining. Sie werden jedoch schrittweise in die szenische Arbeit integriert. Bisher noch nicht zum Ensemble dazu gestossen sind die Darstellerinnen und Darsteller der Stiftung Behindertenbetriebe Uri, SBU. Mit ihnen proben wir einmal im Monat und tasten uns sehr spielerisch an das Stück heran. Wir verkörpern Luxuspassagiere oder driften auf einer Eisscholle und frieren ganz fürchterlich. Mir geht es darum, dass sie Spass und ein Erfolgserlebnis haben, und dass sie ihr einmaliges Talent mit auf die Bühne bringen, wenn alles zusammenkommt.

Was beeindruckt Sie besonders dabei?

In gewisser Hinsicht spielen Schauspielerinnen und Schauspieler mit einer geistigen Beeinträchtigung auf einem Niveau Theater, das viele normalbehinderte Menschen nie erreichen werden. Einfach im Moment zu sein, sich total in einer Fiktion zu verlieren und viele Dinge nicht peinlich zu finden - um überhaupt dorthin zu kommen, trainieren wir Normalbehinderten oft jahrelang. Ich bin immer wieder begeistert vom Ideenreichtum und der Unbeschwertheit, mit der unsere SBU-Darstellerinnen und-Darsteller Theater spielen. Weil sie nicht filtern, sondern einfach spielen. Da sind sie uns in vielen Dingen voraus. Wichtig ist es mir, dass wir in der Inszenierung Aufgaben für sie finden, wo sie ihre Qualitäten bestmöglich einbringen können.

Was sagt uns so ein Stück wie «TITANIC» heute?

Vielleicht, dass wir alle im Träumen gleich sind und uns dies verbindet – erst recht im Untergang und egal ob Multimillionär oder Bettler. Dazu kommt diese historische Aufbruchstimmung, die durch den rasch fortschreitenden technischen Fortschritt entstanden ist. Telegrafie, Elektrifizierung, Flugzeuge, Autos, all dies passierte von Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1914. Für die Menschen jener Epoche muss das ein krasses Gefühl gewesen sein. Für uns, die wir an diese rasend schnellen Entwicklungen gewöhnt sind, ist das vielleicht schwer nachvollziehbar. Ich glaube jedoch trotzdem, dass wir das Stück emotional verstehen können. Wir können nachvollziehen, dass sich die Welt verändert, auch wenn wir das heute vielleicht als bedrohlich empfinden.

Interview: Brigitte Hächler